Luhmann und die Wirtschaftsethik.
Ein Beitrag von Michael Rasche.
Die Systemtheorie Niklas Luhmanns gilt als bedeutende und einflussreiche Interpretation der Wirklichkeit: sie funktioniert wie ein System und sie ist ein System. Die Systemtheorie hat viele wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Betrachtungsweisen der Welt inspiriert, nicht zuletzt die nach ihr benannte „Systemische Beratung“ bzw. „Systemische Therapie“.
Auch in die Philosophie hinein hat die Systemtheorie im 20. Jahrhundert einen großen Einfluss ausgeübt, es gab allerdings einen großen dunklen Fleck in dieser Beziehung: die Ethik. Ihr stand Luhmann sehr skeptisch gegenüber. Dies hatte auch Konsequenzen für die Wirtschaftsethik. Über sie sagte Luhmann:
„Es gibt Wirtschaft, es gibt Ethik – aber es gibt keine Wirtschaftsethik.“
Natürlich stellt dies für systemische Berater, die mit dem Hintergrund der Systemtheorie in der Wirtschaft arbeiten und durchaus einen ethischen Anspruch mitbringen, eine gewisse Herausforderung dar.
Wie verhält es sich mit Luhmanns Wirtschaftsethik? Kann es eine systemtheoretische (und damit auch systemische) Ethik geben?
Systemtheorie
Luhmann definiert die menschliche Gesellschaft in Systemen. Menschen bilden zusammen ein System, das durch die Kommunikation bzw. durch die Beziehungen der Menschen untereinander beschreibbar ist.
Wie auch die Poststrukturalisten Frankreichs tut sich Luhmann schwer, Personen und Menschen über ihre Identität zu beschreiben. Sie sind nicht durch das beschreibbar, was sie sind, sondern durch das, was sie machen, was sie nach außen wirken und wodurch sie von außen beeinflusst werden. Eine Gruppe von Menschen in einem Beziehungsnetz bildet ein System, vom System Familie bis hoch zum System Gesellschaft, jeweils zusammengehalten durch ein eigenes Beziehungsnetz und eine eigene Kommunikation.
Systemtheorie und Ethik
Welche Rolle spielt nun die Ethik?
Vor ihr schreckt Luhmann ein bisschen angewidert zurück: sie ist für ihn ein „hochinfektiöser Gegenstand, den man nur mit Handschuhen anfassen sollte“.
Prinzipiell gilt, dass die Moral für Luhmann ein Kommunikationssystem ist. Es baut auf den Kategorien „moralisch gut“ – „moralisch schlecht“ auf bzw. „Achtung“ und „Missachtung“, Kategorien, die wiederum ein allgemeingültiges Paradigma erfordern. Dieses Paradigma, das „moralische Prinzip“, befindet sich jedoch außerhalb des gesellschaftlichen Systems. Was logischerweise dazu führt, dass Ethik und Gesellschaft in verschiedenen Sphären unterwegs sind und eine Durchsetzung der Ethik in der Gesellschaft zumeist gegen die Gesellschaft durchgesetzt werden muss.
Systemtheorie und Wirtschaftsethik
Aus diesem Grundverständnis („Moral ist ein Kommunikationssystem“) ergibt sich auch die Schwierigkeit für Luhmann, eine Wirtschaftsethik anzuerkennen. Ein Kommunikationssystem funktioniert nach eigenen Gesetzen. Ein Rechtssystem nach den Kategorien von recht und unrecht, die Wissenschaft nach wahr oder unwahr, die Wirtschaft nach Zahlen oder Nichtzahlen. Und die Ethik nach moralisch gut oder schlecht. Die Kommunikation dieser einzelnen Systeme ist nicht kompatibel – auch nicht die der Wirtschaft und der Ethik. Also kann es keine Wirtschaftsethik geben, so Luhmann.
Die Wirtschaft, so Luhmann, tickt nach anderen Gesetzen als die Ethik. Hier zählt das Geld, dort zählen moralische Werte. Dabei spielt die Moral im Leben der Unternehmen meist eine untergeordnete Rolle und ist oft sogar ein Hemmschuh für die Entwicklung des Unternehmens. Die moralischen Werte – die Luhmann an den Sittengesetzen Kants festmacht – können überhaupt nicht richtig konkret werden, weil sie mit der Kommunikation des Unternehmens nicht kompatibel sind, sondern maximal für die einzelne Person von Belang sind. Eigene, ethische Entscheidungen werden jedoch nicht vom Unternehmen übernommen.
Zwei Anfragen an Luhmann:
– Nicht kompatibel?
Die Grundthese Luhmanns, dass die Ethik und die Wirtschaft nicht kompatible, für sich geschlossene Teilsysteme sind, ist zu hinterfragen. Auch ein Wirtschaftsunternehmen funktioniert nicht nur wie ein wirtschaftliches System. Aus dem Grund, weil es aus Menschen besteht, die nicht nur wirtschaftlich ticken.
Natürlich beruht moralisches Handeln auf anderen Kategorien als wirtschaftliches Handeln und funktioniert deshalb anders. Natürlich macht es Sinn, beide Dimensionen menschlichen Handelns zu trennen, um auf bestimmte Dinge aufmerksam zu machen.
Aber das heißt nicht, dass diese beiden immer komplett getrennt sind und immer komplett getrennt sein müssen.
Wirtschaftsethiker im Gefolge Luhmanns sprechen gerne von einem „Übersetzungsprozess“ den man beginne müsste, um Ethik und Wirtschaft zusammenzukriegen. Es braucht aber keinen Übersetzungsprozess, weil die strikte Trennung beider eine gedankliche, aber keine reelle ist. Wirtschaftliches Handeln hat immer auch eine ethische Dimension wie auch ethisches Handeln immer eine wirtschaftliche Dimension hat. Und gleichzeitig eine rationale, emotionale, soziale usw. Diese Dinge sind etwas verschiedenes und gehören trotzdem zusammen. Weil der Mensch aus allen diesen Dingen besteht.
– Soziologische Perspektive?
Luhmann war Soziologe und suchte in seiner Systemtheorie ein Verfahren zu entwickeln, die soziale Wirklichkeit zu erklären. Nun gibt es die soziologische Dimension der Ethik: wie funktioniert das moralische Leben in der Gesellschaft, in einem Unternehmen? Welche Faktoren beeinflussen das moralische Leben? An welchen Werten orientiert sich das soziale Leben?
Daneben gibt es aber auch die philosophische Perspektive: welche Gültigkeit haben diese Werte eigentlich? Ist es ethisch richtig, dass ein bestimmter Wert im Unternehmen gelebt wird? Oder ist es nicht richtig?
Luhmann interessiert die Frage der Gültigkeit überhaupt nicht, weil sie soziologisch nicht relevant ist. Ihn interessieren die sozialen oder zwischenmenschlichen Auswirkungen. Was aber zu kurz greift. Weil ein Mensch nicht nur aus seinen sozialen und zwischenmenschlichen Auswirkungen besteht.
Fazit
Die Systemtheorie Luhmanns hat sich völlig zu Recht große Verdienste erworben. Aber in Bezug auf die Ethik bzw. die damit verbundene Wirtschaftsethik begeht Luhmann einen großen Fehler, indem er das ausklammert, was in der Systemtheorie nicht greifbar ist. Die Wirklichkeit ist komplexer und die menschliche Wirklichkeit greift tiefer.
Die Interpretation der Wirklichkeit ist nicht die Wirklichkeit.
Die Systemtheorie hilft, das Verhalten des Menschen zu erklären. Aber sie macht den Menschen nicht zum System.
Was heißt das in Bezug auf die Wirtschaftsethik?
Sie bleibt ein schwieriges Unterfangen. Denn natürlich hat die wirtschaftliche Praxis nicht immer etwas mit ethischen Maßstäben zu tun. Aber es geht nicht darum, eine völlig fremde Ethik irgendwie in der Wirtschaft unterzubringen, sondern zu schauen, nach welchen Werten sich wirtschaftliches und gesellschaftliches Leben orientieren soll, damit das menschliche Leben besser wird.
Hierzu stellt die Systemtheorie ein wichtiges Analyseinstrument zur Verfügung. Sie stellt keine Lösungen für Probleme zur Verfügung, aber sie hilft, Lösungen zu entdecken. Das gilt im Bereich der systemischen Beratung bzw. Therapie, gilt aber auch für gesellschaftliche und gesamtwirtschaftliche Fragen wie die Ethik. Das System kann nichts lösen. Aber es hilft zu erkennen. Damit es dann gelöst wird.
Den Text finden Sie – neben vielen anderen – auch hier: Blog | Michael Rasche
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