Korruption, Bestechlichkeit, Lobbyismus und die Angst vor dem Nichts.

Ein Beitrag von Alexander Braml.

 

Das Fehlverhalten von vor allem Männern, die in der Öffentlichkeit im weitesten Sinne stehen, lädt doch stets auf ein Neues zum Staunen ein. Ganz aktuell lässt (wieder einmal) das Gebaren einiger Politiker aufhorchen: Korruption, Bestechlichkeit, Vorteilsnahme und damit verbundene meist erzwungene Rücktritte – so wird etwa gegen den CSU-Landtagsabgeordneten aus Günzburg und ehemaligen bayerischen Justizminister Alfred Sauter staatsanwaltschaftlich ermittelt und einige politische Ämter lässt Sauter zwischenzeitlich zumindest ruhen. Sauter steht im Verdacht der Vorteilsnahme und unrechtmäßigen Bereicherung im Zusammenhang mit der Beschaffung von medizinischer Schutzausrüstung und von Schnelltests im Rahmen der Corona-Pandemie. Zumindest aber scheint es eine unmoralische Verquickung von Amt und Geschäft gegeben zu haben. Im Zusammenhang damit wird erneut über die Themen der Nebentätigkeiten und Nebenverdienste von Bundestags- und Landtagsabgeordneten diskutiert sowie über deren Offenlegungspflicht. Alfred Sauter, als vielbeschäftigter Anwalt, wurde seinerseits bereits (zweifelhaft) berühmt mit dem lapidaren Ausspruch, er sei im „Nebenjob Abgeordneter“. Haha. Wo der Witz, Esprit oder gar Geist in diesem Ausspruch liegen sollen, bleibt wohl das Geheimnis Sauters. Wenn er das aber ernst meint – dann wird es wahrlich bitterernst.

Die Liste vergleichbarer Fälle kann beliebig fortgesetzt werden: die Bundestagsabgeordneten Philip Amthor und Georg Nüßlein, die sich 2020 und 2021 mit Lobbyismus- und Bestechlichkeitsvorwürfen konfrontiert sahen. Die aktuellen Fälle mehr oder weniger versteckter (politischer) Lobbyarbeit für den autoritären Staat Aserbaidschan. Jeder Politiker, der nach seiner aktiven Laufbahn ohne Skrupel Lobbyist in auch ehedem von ihm politisch beaufsichtigten Branchen und Firmen wird. Gerhard Schröder, der nach seiner Abwahl als Bundeskanzler der BRD doch zweifelhafte Engagements angenommen hat und jede Kritik daran auf die ihm eigene schnoddrige Art als Unfug oder vermeintliche Privatsache zurückgewiesen hat.

Aber auch außerhalb der Politik gibt es diverse Beispiele, die in eine ähnliche Richtung gehen: die jahrelange erfahrene persönliche Unangreifbarkeit eines Produzenten Harvey Weinstein in Hollywood etwa, trotz massiver Straftaten in Form von sexuellen Übergriffen auf Schauspielerinnen. Und, in den realen Auswirkungen weitaus harmloser, hat – auch ein wunderbares Beispiel – Sepp Blatter, von 1998-2016 Präsident des Weltfußballverbands FIFA, im Jahre 2014 im Alter von 78 Lebensjahren in einem Anflug von zumindest Größenwahn von intergalaktischen Wettbewerben und Fußball auf anderen Planeten schwadroniert – und die doch steile These gewagt, er würde dies alles noch erleben. Anschließend trat Sepp Blatter nach Vorwürfen über fragwürdige Methoden, Geschäfte und Bestechungsversuche 2015 dann von seinem Amt zurück – nach Ermittlungen der (übrigens nicht weniger fragwürdigen) FIFA-Ethikkommission.

Alle genannten Beispiele, alle an den Tag gelegten Verhaltensweisen gehen an der Lebenswirklichkeit, wie ebenso am Verständnis der Menschen vorbei und an dem, was man – noch unabhängig jeder juristischen Bewertung von auch Straftaten – als gute Sitten, als moralisch gutes Verhalten oder vielleicht auch als Charakter bezeichnen könnte. Ein Gefühl der Unbesiegbarkeit und ja: Unsterblichkeit scheint hier meist ältere, mächtige Männer zu befallen, die – zugegebenermaßen – dauerpräsent in der Öffentlichkeit und den Massenmedien, ständig hofiert und umgeben sind von Menschen, die ein Stück Ruhm oder Geld abgreifen wollen, ebenso jedes Gespür für gesellschaftlich Machbares, ja gar Wünschenswertes verloren haben.

Es stellt sich die Frage, warum (gerade!) Männer fortgeschrittenen Alters anfällig sind für Allmachtsphantasien, den vermuteten Nimbus der Unangreifbarkeit oder Unsterblichkeit, auch für den Wunsch, immer mehr Reichtum anzuhäufen, fehlendes Unrechtsbewusstsein und fehlendes Gespür für die Grenzen des Moralischen – wie gesagt: noch unabhängig jeder juristischen Bewertung von Sachverhalten.
Eine Motivation könnte man oftmals in der Tatsache vermuten, dass viele der solcherart Anfälligen aus eher einfachen Verhältnissen stammen (Schröder, Blatter), die sich nach oben gearbeitet haben. Aus erlebtem Mangel kann das zu einer Einstellung von „Das steht mir jetzt zu!“ führen. Gegenbeispiele lassen sich aber ebenso finden, man denke etwa an den bereits erwähnten Sexualstraftäter Harvey Weinstein, der gut situiert aufgewachsen ist. Oder auch an den ehemaligen Deutsche-Post-Chef Klaus Zumwinkel, den ein ererbtes erhebliches Familienvermögen und ein Top-Managerjob nicht davon abgehalten haben, eine Million Euro an Steuern zu hinterziehen.

Was hier jeweils – so oder so – fehlt ist das Gespür und das Verständnis für die Tatsache, dass es, neben der eigenen Leistungsbereitschaft, wechselseitig immer auch die gesellschaftlichen Verhältnisse sind, die individuelle Chancen ermöglichen. Ohne eine Gesellschaft, die auf eine wirkliche Vermögensabgabe und internationale Steuerabkommen verzichtet, kann individueller Reichtum nicht nahezu unermesslich werden. Ohne Auftraggeber und möglichst eingebunden in ein (staatlich garantiertes) Rechtssystem kann der beste Anwalt keine Rechnungen schreiben. Ohne Strukturen der Unterdrückung und von Machtasymmetrien, wie es sie in der Filmbranche gab und gibt, hätten es Sexualstraftäter im System ungleich schwerer (zum Thema dieser Machtasymmetrien habe ich mir vor einiger Zeit, auf der Höhe der „Mee-too-Bewegung“ bereits hier Gedanken gemacht: Gedanken zur aktuellen „Me-Too“-Debatte. – andersdenkenblog).
Ohne ein Bildungswesen, wie es in Deutschland (trotz aller diskussionswürdiger Schwächen) vorherrscht, hätte Gerhard Schröder niemals das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nachholen und anschließend Jura studieren können. Ohne ein weltweites System an Freiwilligen und Ehrenamtlichen in einem durchlässigen Sportsystem, wie dem der Fußballschulen und -ligen, gäbe es keinen Weltverband für sich persönlich bereichernde Funktionäre.
Parallel mit diesen Entwicklungen geht meist auch fehlendes Unrechtsbewusstsein einher; Rücktritte sind selten freiwillig, Scham ob eigener Verfehlungen nicht erkennbar und wenigstens retrospektives Bedauern bezüglich der Taten Fehlanzeige. Vielmehr – und das passt nicht nur psychologisch in die oben ganz kurz skizzierten narzisstischen Persönlichkeitsschemata – sehen sich diese Menschen dann oftmals selbst als Opfer einer unverständigen, undankbaren, vorgeblich neidischen Gesellschaft.        Und daher ist es auch unerheblich, ob diese Menschen/Männer aus „kleinen“ oder „nicht so kleinen“ Verhältnissen stammen. Herzensgröße, Empathie und ja, auch Unrechtsbewusstsein, sind nicht abhängig beispielsweise materieller Ausgangslagen zu beurteilen.

In paralleler Wirklichkeit ihrer eigenen vermeintlichen Bedeutungsschwere gefangen ist es diesen Menschen unmöglich, Demut, auch für erfahrenes Glück und erhaltene Chancen, an den Tag zu legen – und so selbst wirklich glücklich zu werden. Dass Reichtum und Ruhm keine letztgültigen Gründe oder Motivatoren für ein sinnerfülltes Leben sein können, weist Benjamin Andrae in seiner unbedingt lesenswerten Monographie „Die Sinne des Lebens“ nach. Und dass mehr Geld nicht gleichbedeutend mit steigender Lebenszufriedenheit oder steigender Sinnstiftung ist, stellt – beginnend mit der Sage um König Midas – eine schon sehr alte Feststellung der Glücksforschung dar. Neben dem Schönen, dem Guten und dem Wahren – um einen alten philosophischen Gedanken aufzugreifen – bleibt jedes andere (materielle) Ziel im Leben instrumentell und wird schnell schal.

Warum aber dann trotzdem die beschriebenen Verhaltensweisen, gerade auch von älteren und alten Männern, die es vielleicht (schon) besser wissen könnten? Letztlich – und das ist meine Vermutung – ist es, neben Pathologien oder Nihilismus vielleicht, alleine die Angst vor dem eigenen Tod, der diese Menschen dem Geld, der Gigantomanie und dem Wahnbild eigener Unsterblichkeit nachjagen, frönen und nicht selten moralisch fragwürdig bis juristisch kriminell werden lässt. Tatsächlich ist es jedoch nicht die eigentliche Angst vor dem Tod an sich, sondern die Angst vor dem Nichts, wie das der dänische Philosoph Søren Kierkegaard in „Der Begriff der Angst“ 1844 beschrieben hat:

„Nichts. Welche Wirkung aber hat Nichts? Es erzeugt Angst. […] aber wer durch Angst schuldig wird, der ist ja unschuldig; denn es war ja nicht er selbst, sondern die Angst, eine fremde Macht, die ihn ergriff, eine Macht, die er nicht liebte, sondern vor der er sich ängstigte; – und doch ist er ja schuldig, denn er versank in die Angst, die er doch liebte, indem er sie fürchtete.“ (Kierkegaard: Der Begriff der Angst, 487, 489.)

Geblendet von der eigenen Bedeutung im Hier und Jetzt, gleichsam gerührt von der eigenen Bedeutungsschwere, der eigenen Bedeutsamkeit nachjagend, vereint dies wohl alle die Sauters, Schröders, Weinsteins und Blatters dieser Welt: Die Angst vor dem Nichts, das nach dem individuellen Tod wartet.

Neben einer gehörigen Portion Demut, die im Leben gegenüber den Zeitgenossen und auch dem eigenen Tod gegenüber angemessen und unabdingbar angebracht wäre, ist es ein epikureischer Gedanke, der bereits ca. 300 vor unserer Zeitrechnung gedacht wurde und der hier Trost spenden und helfen könnte, die irdische Jagd nach Geld, Macht und Ruhm innerlich einzuordnen und vor allem die Angst vor dem Tod und dem Nichts zu relativieren: „Das schauerlichste aller Übel, der Tod, hat also keine Bedeutung für uns; denn solange wir da sind, ist der Tod nicht da, wenn aber der Tod da ist, dann sind wir nicht da.“

 

Anmerkung: Der Text ist die leicht modifizierte Fassung des Beitrags vom 06.05.2021 auf meinem Blog andersdenkenblog.com. Ich freue mich ebenso über Besuche dort und Ihr Interesse an meinen Texten!

 

Zum Weiterlesen:

Andrae, Benjamin: Die Sinne des Lebens. München 2018.

Kierkegaard, Søren: Der Begriff der Angst. München 2015.

Lesenswert (mit in Teilen ähnlichen Schlussfolgerungen): Michael Krüger in der Süddeutschen Zeitung vom 15./16.05.2021: Ein Gastbeitrag von Michael Krüger mit Leseempfehlungen – Kultur – SZ.de (sueddeutsche.de)

Und: Die tagesaktuelle Presse…