Kontext – aus der Sicht der analytischen Philosophie.

Ein Beitrag von Clemens Sökefeld.

 

Wenn ich eine Botschaft vermitteln will, muss ich den Kontext kennen

Wenn ich meinen Kunden überzeugen will, wenn ich eine Werbebotschaft formulieren muss, dann will ich, dass meine Kunden die Botschaft so verstehen, wie ich sie gemeint habe.

Damit sind wir schon mitten in der Sprachphilosophie von Pau Grice (1913-1988), der sich mit dem Ausdrücken und Verstehen von „Gemeintem“ beschäftigt hat.

Dabei beruft er sich auf die Darstellung der Verstandestätigkeit in der transzendentalen Analytik in Kants Kritik der reinen Vernunft, und entwickelt einen Apparat von Verfahren, wie „Gemeintes“ ausgedrückt und verstanden werden kann. Diese Verfahren beruhen auf Maximen sowie den damit korrespondierenden Erwartungshaltungen der Adressaten.

Grice verharrt auf der Ebene der Theorie und gibt keine Antwort auf die Fragen: „Und wie funktioniert das in der Praxis? Wie drückt ein Sprecher „Gemeintes“ konkret aus und wie erschließt der Adressat dieses „Gemeinte“?“

Die Psycholinguisten Deirdre Wilson und Dan Sperber beschreiben ca. 20 Jahre nach Veröffentlichung (1986) der Aufsätze Grices das Wirken des menschlichen Erkenntnisvermögens in ihrem Buch „Relevance“.

Eine zentrale Rolle wird dem Begriff „Kontext“ zugeschrieben. Kontext muss sofort von einer eher trivialen Bedeutung getrennt werden, den dieser Begriff im professionellen Umfeld gerne hat – wenn etwa gesagt wird: „Ja, in einem anderen Kontext hat das ja eine andere Bedeutung.“ Denn dann ist mit Kontext eher eine Situation oder eine Stimmung gemeint. In dem hier beschriebenen philosophischen Begriff von Kontext geht es um die Verfahren, wie ein Adressat Gesagtes in einen Kontext einordnet (mittels bestimmter Schlussregeln) und wie ein Sprecher durch seine (i. d. R. nur intuitive) Kenntnis dieser Verfahren, das Verstehen von Gemeinten beeinflusst. Und durch Kenntnis dieser Verfahren ist eindeutig, was gemeint ist, egal, ob es regnet oder schneit, die Äußerung in München oder Hamburg getätigt wurde.

Um zu einem philosophischen Begriff von Kontext zu gelangen, müssen wir uns mit dem Erkenntnisvermögen und seiner praktischen Anwendung auf sprachliche Ausdrücke beschäftigen.

Cognition

Im zweiten Teil ihrer Studie beschäftigen sich Sperber/Wilson mit dem Erkenntnisvermögen. Für sie ist das Erkennen durch zwei wesentliche, voneinander getrennte Betrachtungsweisen bestimmbar:

  1. Das Erkennen besteht aus dem Ableiten von Annahmen und Absichten. Das Ableiten ist geprägt von Schlüssen, die nicht zwingend sind („Non-demonstrative inferences“). (Vgl. Sperber/Wilson 1986. 65)
  2. Die Bestandteile der Kommunikation, die begrifflich repräsentiert werden und dem Adressaten direkte Informationen übermitteln, sind als Prämissen zu verstehen, die dem Adressaten dazu dienen, die Absichten des Sprechers zu folgern. (Vgl. ebd.) Geleitet wird dieser Prozess des Erkennens dadurch, dass der Adressat in der Lage ist, zu unterscheiden, welche vermittelten Bestandteile einer Äußerung relevant sind und welche nicht. (Vgl. ebd. 116)

Schlüsse, die nicht zwingend sind („non-demonstrative inferences“)

Menschliche Kommunikation besteht nicht im Transferieren von Codes, die gelernt werden und mittels derer Gedanken ausgetauscht werden. Zeichen sind weder eindeutig noch unveränderbar. Auch der häufige und plausible Vergleich der sprachlichen Kommunikation mit einem Schachspiel verfehlt den Prozess des Sprechens und Verstehens. Die Regeln der Bewegungsfreiheit und die Einsatzmöglichkeiten der Schachfiguren sind starr und damit sind deren Repräsentationen eindeutig. Eine Modifikation würde das Spiel zerstören. Daher sind für einen Schachspieler Spielzüge vorhersehbar, sie stellen oft zwingende Abläufe dar.

In der Kommunikation geht es um nicht zwingende Schlüsse. Diese anzuwenden ist nach Sperber/Wilson der zentrale Prozess des Erkennens.

Zentrale Prozesse

Sperber/Wilson unterscheiden reine, simple ‚Input-Prozesse‘, in denen Festgelegtes decodiert wird, und zentrale Prozesse, die unspezialisierte Ableitungsprozesse („inference“) beinhalten. Auch das Sprechen bzw. das Verstehen einer Äußerung durch den Adressaten ist eine bestimmte Stufe eines zentralen Prozesses, der bestimmte Regeln hat und somit stellt ein inferentiales Erkennen den zentralen Prozess des Denkens dar. (Vgl. ebd.)

Das Vermögen, schlussfolgernd zu begreifen, ist unmittelbar und spontan. In einer Kommunikationssituation braucht es keine Vorlaufzeit. Wichtig ist, dass der Sprecher die Bestandteile seiner Äußerung so gruppiert, dass sie unmittelbar akzeptabel und begreifbar für den Adressaten sind.

Auch wenn, wie oben angesprochen, die menschliche sprachliche Kommunikation eher auf spontanen, begründeten Vermutungen als auf logischen Schlüssen beruht, führen dennoch nur deduktive Regeln zu diesen Vermutungen. (Vgl. ebd. 69)

Dabei steht nicht der Wahrheitswert selbst im Vordergrund, sondern ob eine Annahme mehr oder weniger überzeugend ist. (Vgl. ebd. 75) Entweder muss der Adressat zwischen der Annahme und ihrem Gegenteil entscheiden oder er muss die verschiedenen Richtungen der Aktionen, die die Annahme bedingt, unterscheiden können. Beispiel für die erste Variante: Ich nehmen an, Bob ist nicht in der Stadt und dann begegnet er mir.

Beispiel für die zweite Variante: Mit ist das Benzin ausgegangen und ich weiß, dass eine Tankstelle an dem oberen Ende der Straße ist und eine an dem unteren. Und ich meine, dass die Chance, dass die am unteren Ende noch geöffnet hat, höher ist.

Aus logischer Perspektive wirkt diese Unterscheidung der beiden Varianten zunächst befremdlich. Ein Adressat steht vor der Wahl, eine Annahme zu akzeptieren oder zu verwerfen. Ob er nun annimmt, jemand sei in der Stadt oder diese oder jene Tankstelle hat geöffnet, ist vordergründig ohne jeden Belang. Doch die Unterscheidung des Grades der Überzeugungskraft einer vermittelten Annahme ist das Entscheidende bei der Terminierung von Annahmen. Wenn jemand meint, Bob sei in Urlaub und Bob läuft ihm über den Weg, dann ändert er seine Annahme. Wenn jemand Benzin kaufen will und ihm die Annahme vermittelt wird, welche Tankstelle wahrscheinlich geöffnet haben könnte, dann verändert er sein Verhalten. Annahmen sind also in einem menschlichen Bewusstsein nicht bloß als akzeptiert oder als nicht akzeptiert gespeichert, sondern sie werden aufbewahrt mit einem gewissen, ständig veränderbaren Grad an Überzeugtheit. Die Fähigkeit, Annahmen als mehr oder weniger überzeugend einzustufen, ist eine eigene, nicht logische Eigenschaft des menschlichen Verstandes. Daher wollen Sperber/Wilson keine ‚Logic of confirmation‘ entwerfen. ‚Überzeugtheit‘ ist ein nicht logischer Term, der für die Erforschung der Kommunikation genutzt werden kann.

Einerseits wird durch diese Argumentation fassbar, dass in der Kommunikation nicht mit starren, unveränderbaren Begriffen, sondern mit flexiblen Annahmen operiert wird. Andererseits bleibt die Frage offen, wie solche flexiblen Annahmen, die nur durch sprachliche Mittel repräsentiert werden, verstanden werden können.

Den logischen Regeln muss ein Vermögen zur Verfügung stehen, das sie anwendet. Sperber/Wilson nennen dieses Vermögen das ‚deduktive Gerät‘. Das ‚deductive device‘ funktioniert so, dass weder Doppeleinträge noch Widersprüchlichkeiten entstehen. Auf diese Weise wird kontrolliert, ob nicht schon eine Negation des möglichen Eintrags auf diesem Platz in einer Art internen Datenbank vorhanden ist. Der Grad der Überzeugungskraft des neuen Inputs entscheidet dann, ob der alte Eintrag überschrieben oder der Input abgelehnt wird.

Kontext

Der Begriff ‚Kontext‘ wird bei Sperber/Wilson also in einem neuen Zusammenhang verwendet. Der Begriff war ihrer Meinung nach traditionell in Abhandlungen zu finden, in denen es darum ging, dass bestimmte Begriffe oder Ausdrücke in bestimmten Szenarien andere Entsprechungen haben.

‚Kontext‘ ist dagegen bei Sperber/Wilson keine unsystematische Zusammenstellung von soziologischen, klimatischen, bildungspolitischen oder anderen Daten, sondern das aktive, also das in einer konkreten Situation als Basis für das Beurteilen einer Annahme sprachliche Wissensgefüge des Adressaten oder Sprechers, in das dieser eine Äußerung einordnet bzw. mit dem dieser die in der Äußerung enthaltenen Annahmen abgleicht.

Contextual effects

Kontextabhängige Einflüsse sowie Auswirkungen – ‚contextual effects‘ – (Sperber/Wilson 1986. 108ff.) bestehen aus der Vereinigung einer neuen Information mit einem Vorwissen in einem Bewusstsein.

Dahinter steht die Annahme, dass eine neue Information immer mit einem Vorwissen kontrastiert und in einen bestimmten Zusammenhang eingeordnet wird, der aus Vorwissen und neuer Information gebildet wird. Durch jede neue Information wird das Vorwissen in eine bestimmte Richtung verändert. Eine neue Information kann im Widerspruch zur alten stehen oder diese bestärken. Das hat unterschiedliche Auswirkungen. Das Gefüge des dann vorhandenen Vorwissens kann nun eine Ergänzung, eine Bekräftigung oder eine Revidierung darstellen. Der von Sperber/Wilson verwendetet Begriff „effect“ kann somit übersetzt werden mit „Auswirkung“ oder „Einfluss“.

Das bereits erwähnte ‚deduktive Gerät‘ ermittelt nun die Stärke bzw., Schwäche einer aus Vorwissen und neuen Informationen entstandenen Folgerung (Konklusion):

  1. Sind die Prämissen überzeugend, ist auch die Konklusion überzeugend.
  2. Ist eine Prämisse überzeugend, die andere nicht, ist auch die Konklusion weniger überzeugend.
  3. Sind die Prämissen nicht überzeugend, dann ist auch die Konklusion nicht überzeugend. (Vgl. ebd.)

Was überzeugend ist, wird durch einen Abgleich mit dem Kontext festgestellt.

Diese Urteilskraft – „inferential ability“ (ebd. 117) – ist ein Steuermechanismus, der während des Sprechens bzw. des Verstehens spontan abläuft. Sperber/Wilson räumen ein, dass sie damit einen psychologischen Untersuchungsgegenstand geschaffen haben, der in der Forschung noch völlig unbeschrieben ist, und dass es sich um ein Modell handelt, das dazu dienen kann, nachzuvollziehen, wie der (sprachliche) Kommunikationsprozess möglich ist.

Kreativität oder Abhängigkeit

Der Einfluss des Kontextes und des aktiven Vorwissens ist essentiell bei der Beurteilung neuer Annahmen, mit denen ein Bewusstsein konfrontiert wird

Diese Vorstellung kann man so erklären, dass der Kontext eine Anhäufung erworbener Annahmen ist, in den neue eingeordnet werden. Damit wäre ein gegebenes bzw. festgeschriebenes Vorwissen beschrieben, was allerdings zwei bereits dargelegten Sachverhalten widersprechen würde.

  1. a) Sperber/Wilson haben überzeugend die Unterscheidung von ‚mutual knowledge‘ und ‚mutual manifestness‘ eingeführt.

Der These eines ‚mutual knowledge‘ als Basis, Äußerungen verstehen zu können, würde die Auffassung entsprechen, dass der Kontext dazu dient, eine Äußerung verstehen zu können, die aus einem Konglomerat von Annahmen besteht. Doch die Teilnehmer einer Konversation müssten über dasselbe Wissen verfügen. Dies ist auf Grund der unterschiedlichen Entwicklung nicht möglich. Gäbe es ein kongruentes Wissen in der Sprachgemeinschaft, würde das dazu führen, dass man Äußerungen vorwegnehmen kann. (Vgl. ebd. 133)

  1. b) Darüber hinaus haben Sperber/Wilson deutlich dem Modell widersprochen, das (sprachliche) Kommunikation als Verfahren des reinen Kodierens und Dekodierens von Gedanken definiert, die dadurch von einem Bewusstsein in ein anderes gelangen. Demnach müsste Kontext alles beinhalten, was mit der Äußerung gemeint sein könnte, damit diese überhaupt verstanden werden kann. Der Hörer müsste alle möglichen Varianten des Geäußerten vorab gespeichert haben, damit er die Äußerung damit vergleichen und anhand der von ihm aufgestellten Überzeugungen einordnen oder ablehnen kann. (Vgl. ebd. 133f.)

Daraus folgt, dass Kontext differenzierter beschrieben werden muss, und zwar in der Weise, wie ein Bewusstsein welches aktive Vorwissen heranzieht, um eine neue Annahmen enthaltende Äußerung damit zu beurteilen.

Wahl des Kontextes

Wenn der in einer Kommunikationssituation verwendete Kontext nicht festgelegt ist, sondern einer individuellen Auswahl unterliegt, dann ist das die Startphase einer Konversation, in der eine (erste) Auswahl getroffen wird. Diese Auswahl ist nicht völlig willkürlich, denn sonst könnte sie so abstrus sein, dass gar keine weitere Kommunikation stattfinden kann. Die Auswahl ist daher das Ergebnis eines deduktiven Prozesses. (Vgl. Sperber/Wilson 1986. 137)

Die in diesen Prozess einbezogenen Annahmen (die dem Gedächtnis entnommen werden) können in zwei Typen unterteilt werden:

  1. Im Vordergrund der Aufmerksamkeit stehende Informationen, die in der Regel neu sind.
  2. Informationen, die zwar berücksichtigt werden, aber im Hintergrund der Aufmerksamkeit verbleiben und in der Regel alt sind. (Ebd.)

Die eigentliche Frage ist nun, wie die neue Information adäquat mit der Background-Information in eine semantische Verknüpfung gebracht wird. Diese Zusammensetzung konstituiert den Kontext. (Vgl. ebd. 138)

Die Verschmelzung neuer Information mit den bereits in einem Bewusstsein vorhandenen und in bestimmter Weise geordneten Annahmen beginnt mit einem unmittelbar gegebenen Kontext, der in verschiedener Weise prolongiert wird. (Vgl. ebd. 140ff.)

Dafür gibt es mehrere Optionen. Entweder der Adressat durchsucht sein Gedächtnis nach vorher gemachten Erkenntnissen oder er addiert enzyklopädische Einträge zu den aktuellen Informationen hinzu. Begriffe, die schon vorher in einem Zusammenhang mit der neuen Information stehen, werden reproduziert, um einen erweiterten Kontext zu bilden. Oder – das ist die dritte Option – der Kontext wird in Zusammenhang mit der unmittelbaren Umgebung gebracht, also mit dem, was der Adressat bzw. das die Aussagen verstehende Bewusstsein unmittelbar sehen, hören, schmecken etc. kann. (Vgl. ebd. 140f.)

Anders formuliert: Das Verfahren, nach dem Urteile hervorgebracht werden, ist vorgegeben.

Die inhaltliche Ausprägung ist abhängig vom Gedächtnis, dem Vermögen der individuellen Verstandestätigkeit und von den Erfahrungen, die ein Bewusstsein bisher gemacht hat.

Synapse und professionelle Relevanz

Zusammenfassend gesagt: Kontext lässt sich ebenso wenig auf Situatives (Lebensumstände, Klima, Raumgestaltung o. ä.) wie auf etwas Starres (Lexikon, Datenbank, Gesetzestext o. ä.) reduzieren.

Kontext ist immer an eine konkrete Konversation gebunden. Die Verfahren der Kontextbildung sind den Handelnden vertraut (wenn auch nicht zwingen reproduzierbar), so dass diese die Kontextbildung aktiv steuern. Kontext wird gebildet aus den Verfahrensweisen und Mitteln mit denen das Gemeinte in Äußerungen ausgedrückt oder verstanden wird.

Auch wenn Kontext an konkrete Konversationen gebunden ist, können die Verfahren, wie Kontext entsteht, beschrieben und verallgemeinert werden.

Welche Einsatzmöglichkeiten habe ich nun in der konkreten beruflichen Praxis? Kenne ich die Verfahren, wie „Gemeintes“ ausgedrückt und verstanden werden kann, dann kann ich auch ermitteln, was gemeint war.

In einem ersten Schritt kann ich erklären, warum etwas augenscheinlich nicht beim Adressaten so ankam, wie es gemeint war, da der Adressat eine nicht intendierte Reaktion zeigt (nicht überzeugt ist, nicht kauft, beleidigt ist etc.).

In einem nächsten Schritt kann aufgezeigt werden, warum Gesagtes genau diese (negative) Reaktion hervorgerufen hat. Das kann innerbetrieblich auf Mobbing und Belästigung zutreffen oder extern die Analyse von Hatespeech unterstützen.

Für die Vermittlung der eigenen Unternehmens-Botschaft dienen diese sprach-analytischen Kenntnisse dazu, diese genau so zu transportieren, dass das Intendierte genauso bei den Adressaten ankommt, wie es gemeint ist.

 

Literatur

Deirdre WilsonDan Sperber: Relevance. Communication and Cognition. 1986

Paul Grice: Studies in the Way of Words. 1989

Georg Meggle: Handlung, Kommunikation, Bedeutung. 1993

Clemens Sökefeld: Konversationsprinzip und Konversationsmaximen. 2023