Was ist ein Sokratisches Gespräch?

Ein Beitrag von Andreas Antić.

Vor gut zehn Jahren bin ich erstmals mit der Methode des Sokratischen Gesprächs in Kontakt gekommen. Zu der Zeit hatte ich mein Masterstudium der Philosophie abgeschlossen und an einer eintägigen Informationsveranstaltung zum Sokratischen Gespräch am Institut für Philosophie der Freien Universität in Berlin teilgenommen. Neben mehreren Fachvorträgen gab es die Möglichkeit, die Methode in einem kurzen, einstündigen Format auszuprobieren. Die Aussage, dass diese Gruppengespräche – zu einer einzigen Frage! – üblicherweise über einen Zeitraum von drei bis sechs Tagen geführt werden, faszinierte mich und ließ mich (bis heute) nicht mehr los. Erst recht, nachdem ich einige Jahre später selbst an einem einwöchigen Sokratischen Gespräch teilgenommen hatte.

Wenn ich heute gefragt werde, ein Sokratisches Gespräch zu beschreiben, dann sage ich als erstes: Ich kann zwar den Ablauf und die methodischen Besonderheiten erläutern, aber um einen wirklichen Eindruck zu bekommen, muss man das einmal selbst erlebt haben.

 

Ursprung und Entwicklung der Methode

Inspiriert ist die Methode den Dialogen, die Sokrates auf dem Marktplatz von Athen im 5. Jahrhundert v. Chr. geführt hat und die uns von Platon schriftlich überliefert sind. Es gibt verschiedene Interpretationen, wie man Sokrates‘ Methode der dialogischen Gesprächsführung heute anwenden kann. Die „Sokratische Methode“ oder auch ein „Sokratisches Gespräch“ ist somit kein einheitliches Konzept.

Ich beziehe mich jedoch auf eine bestimmte moderne Tradition des Sokratischen Gesprächs. Diese geht auf den Göttinger Philosophen und Mathematiker Leonard Nelson (1882–1927) zurück. Er hat die Methode erstmals 1922 in einem Vortrag vorgestellt und in den Folgejahren im Schulunterricht sowie in der politischen Erwachsenenbildung praktiziert. Durch seinen Schüler Gustav Heckmann (1898–1996) wurde die Methode ab 1946 maßgeblich geprägt und wird in ihrer heutigen Form von der Gesellschaft für Sokratisches Philosophieren praktiziert, gefördert und kontinuierlich weiterentwickelt.

Verbreitung hat die Methode des Sokratischen Gesprächs in den letzten Jahrzehnten im Schulunterricht, in der Hochschullehre, in der Erwachsenenbildung sowie in der Organisationsberatung gefunden.

Sokratische Gespräche werden in der Nelson-Heckmann-Tradition in Kleingruppen von fünf bis zwölf Teilnehmenden durchgeführt und von einer Gesprächsleiter*in moderiert. Die Dauer eines Gesprächs kann unterschiedlich ausfallen. Von der Gesellschaft für Sokratisches Philosophieren werden Sokratische Gespräche als Wochenend- (3-4 Tage) oder Wochengespräche (5-6 Tage) angeboten. Im Schulunterricht oder an der Hochschule können Sokratische Gespräche durchaus über mehrere Wochen oder Monate verteilt durchgeführt werden. Für Unternehmen und Organisationen sind solche Zeiträume natürlich viel zu lang. Hier werden Sokratische Gespräche in deutlich kürzerer Form zwischen zwei Stunden und einem Tag angeboten.

 

Ablauf eines Sokratischen Gesprächs

Am Anfang eines Sokratischen Gesprächs steht eine konkrete philosophische Ausgangsfrage. Diese kann auf ein ethisches, erkenntnistheoretisches oder mathematisches Thema abzielen. Die Frage kann bereits vorgegeben sein oder von den Teilnehmenden erarbeitet werden.

Grundsätzlich geeignet sind Fragen, die von der Gruppe nur durch gemeinsames Nachdenken beantwortet werden können, ohne auf weiteres Material zurückgreifen zu müssen, wie naturwissenschaftliche Experimente, sozialwissenschaftliche Forschung oder individuelle psychologische Untersuchungen.

Beispiele für geeignete Ausgangsfragen sind:

Wann hat der Mensch einen freien Willen?

Gibt es berechtigte Ungleichheiten?

Was bedeutet es, verantwortlich zu handeln?

Ist alles Private politisch?

Sind wir verantwortlich für die Zukunft?

Brauchen wir Ideale?

Was ist Unrecht?

Sind Freiheit und Staat vereinbar?

Was heißt es, eine Behauptung zu begründen?

Wie erkenne ich, dass ich mich irre?

Was heißt es, etwas zu messen?

Was bedeutet “sinnvoll”?

Was ist Zeit?

Was ist der Unterschied zwischen “wahr” und “wahrhaftig”?

Was ist der Unterschied zwischen Gewissheit und Wahrheit?

Was ist ein gutes Team?

Was ist Freundschaft?

Wo liegen die Grenzen der Toleranz?

Was ist persönliche Autonomie?

Wie erkenne ich mich selbst?

Was ist wirklich wichtig im Leben?

Wofür bin ich verantwortlich?

Die Gruppe versucht zur Ausgangsfrage durch eigenes Nachdenken eine Antwort zu formulieren, die von allen Teilnehmenden als wahr anerkannt wird. Dies wird erreicht, indem von erlebten Erfahrungen der Teilnehmenden ausgegangen wird. In der Regel wird eine konkrete Situation, die eine Teilnehmer*in selbst erlebt hat und die für die Beantwortung der Frage geeignet scheint, ausgewählt und gemeinsam analysiert. Gemeinsam werden Teilantworten, Zwischenfragen, Thesen und Begründungen formuliert, die von allen Teilnehmenden kritisch geprüft werden. Zur Unterstützung des Gesprächs werden relevante Aussagen und Fragen schriftlich festgehalten, damit man sich im Fortgang auf gefundene Formulierungen beziehen kann.

Implizite Annahmen, Normen und Werte, die in der ausgewählten Situation relevant sind, werden schrittweise aufgedeckt, hinterfragt und argumentativ begründet. In dieser Weise schreitet der Gesprächsverlauf, der wesentlich von der Gruppe selbst bestimmt wird, von der konkreten Erfahrung zu allgemeineren Aussagen. Diese von der Gruppe gewonnenen philosophischen Einsichten stehen in direktem Bezug zu den erlebten Erfahrungen.

Wenn die Gesprächszeit ausreicht und es der Gesprächsverlauf zulässt, gelingt es der Gruppe, eine konsensfähige Antwort auf die Ausgangsfrage zu formulieren. Nicht selten wird dieses Ziel jedoch nicht erreicht, was grundsätzlich kein Problem darstellt, da die Qualität eines Sokratischen Gesprächs davon nicht abhängig ist. Es handelt sich eben nicht um ein problemorientiertes oder therapeutisches Gespräch, das zum Ziel hat, Ergebnisse zu produzieren.

Im Zentrum steht vielmehr die wechselseitige Verständigung zwischen den Teilnehmenden. Dies sicherzustellen, ist eine zentrale Aufgabe der Gesprächsleiter*in. Erreicht wird das unter anderem dadurch, dass Teilnehmende regelmäßig gebeten werden, die Aussagen anderer Teilnehmenden in eigenen Worten wiederzugeben. Dadurch können auch kleinste begriffliche Unschärfen und Missverständnisse sichtbar gemacht und geklärt werden, die in alltäglichen Gesprächssituationen oft gar nicht bemerkt werden.

Auftretende Herausforderungen im Gesprächsverlauf oder störende Dynamiken innerhalb der Gruppe können jederzeit in einem Metagespräch thematisiert werden. Das inhaltliche Sokratische Gespräch wird dazu unterbrochen.

 

Voraussetzungen der Teilnehmenden und der Leitung

Ein Sokratisches Gespräch ist ein Training in der Kunst des eigenen Vernunftgebrauchs. Es erfordert von allen Teilnehmenden selbst zu denken und zu urteilen. Zugleich erfordert es die Bereitschaft, eigene Stellungnahmen zu begründen und auch selbstkritisch zu hinterfragen, wenn man mit anderen begründeten Ansichten konfrontiert wird.

Als Gruppengespräch ist es auch ein Training der Kommunikation, durch aktives Zuhören und das Hineinversetzen in andere Perspektiven. Sich auf die intensive Verständigung mit den anderen Teilnehmenden einzulassen, verlangt zudem von allen Beteiligten ein großes Maß an Geduld.

Philosophische Kenntnisse oder eine philosophische Ausbildung sind keine Voraussetzung für die Teilnahme an einem sokratischen Gespräch. Beim Ringen um angemessene Formulierungen können die Leiter*in und die Gruppe unterstützen.

Die Voraussetzungen für die Gesprächsleiter*in sind sehr anspruchsvoll. Auf Basis einer gründlichen thematischen Vorbereitung muss nicht nur der inhaltliche Gesprächsablauf verfolgt und vorausgedacht, sondern auch die Gruppendynamik und die Einhaltung der Gesprächsregeln beachtet werden. Dazu gehört, dass alle Teilnehmenden gleichberechtigt zu Wort kommen und sich gegenseitig verstehen, dass man sich verständlich ausdrücken, nicht abschweifen, die Beiträge der anderen Teilnehmenden ernst nehmen und auf einen vernünftigen Konsens hinarbeiten soll. Inhaltlich verantwortlich für das Gespräch ist zwar die Gruppe selbst, aber die Leitung versucht darauf hinzuwirken, dass der Verlauf des Gesprächs nicht in einer Sackgasse endet, sich im Kreis dreht oder zum Erliegen kommt.

 

Teilnahme und Ausbildung

Mehrfach im Jahr werden Sokratische Gespräch von der Gesellschaft für Sokratisches Philosophieren und der Philosophisch-Politischen Akademie angeboten, die allen Interessierten offenstehen. Die Veranstaltungen auf Nachfrage auch als Bildungsurlaub anerkannt werden. Alle Termine werden unter https://www.philosophisch-politische-akademie.de/ veröffentlicht. Die Gespräche werden zum Selbstkostenpreis angeboten. Die Leiter*innen erhalten kein Honorar.

Nach der Teilnahme an mehreren Gesprächen unterschiedlicher inhaltlicher Ausrichtung kann man sich bei Interesse zur Leiter*in für Sokratische Gespräche ausbilden lassen. Die Ausbildung erfolgt durch die in der Gesellschaft für Sokratisches Philosophieren organisierten Gesprächsleiter*innen nach einer festgelegten Ausbildungsordnung.

 

Literaturempfehlungen

  • Reclam-Buch: „Das sokratische Gespräch“ (2002),
    hg. von Dieter Birnbacher und Dieter Krohn, Stuttgart: Philipp Reclam jun.
  • Jos Kessels: Die Macht der Argumente (2001), aus dem Niederländischen übersetzt von Bärbel Jänicke, Weinheim/Basel: Beltz Verlag
  • Schriftenreihe „Sokratisches Philosophieren“ im LIT-Verlag,
    v.a. Bd. 16: Gustav Heckmann, „Das sokratische Gespräch“, 3. Auflage 2018 [1980]