Die digitale Mentalität der Moderne.

Ein Beitrag von Michael Rasche.

Die Digitalisierung ist ein schwer greifbares Phänomen. Sie scheint immer mehr Lebensbereiche zu erfassen, sie wird immer mächtiger, immer präsenter in unserem Alltag und damit auch immer schwerer greifbar. Digitalisierung ist ein technisches Phänomen, zugleich aber auch ein wirtschaftliches Phänomen, das auf unsere Arbeitswelt einwirkt, aber auch ein soziales Phänomen, das unsere Gesellschaft verändert.

Dass es in Deutschland bis heute kein Digitalministerium gibt, ist zwar ein Skandal, aber eben durch die Komplexität des Querschnittsthemas Digitalisierung zumindest ein Stück weit erklärbar.

Um zu verstehen, was Digitalisierung eigentlich ist, ist es wichtig, sie als eine Mentalität, als eine Denk-Art zu begreifen. Wenn etwas derartig umfassend ist und wirklich alle Lebensbereiche beeinflusst, dann steckt dahinter nicht nur etwas Zufälliges, das bald wieder vorbei ist, sondern etwas viel Grundlegenderes: eine bestimmte Mentalität in der Gesellschaft, die eben diese Digitalisierung zur Folge hat.

Technik fällt nicht vom Himmel. Sie wird erfunden und eingesetzt, weil eine bestimmte Mentalität sie braucht und einsetzen will. Diese digitale Mentalität wollen wir uns genauer anschauen

Die vor-digitale Mentalität

Um etwas zu verstehen, ist es oft sehr aufschlussreich, sich die historische Entwicklung anzuschauen. Warum und wie etwas entstanden ist, verrät ungemein viel über die Sache selbst. Um die Digitalisierung zu verstehen, ist es also sehr interessant, in die Zeit zu schauen, in der es sie noch nicht gab. Und da gehen wir auf Nummer Sicher und schauen ins Mittelalter. Also bevor jemand auch nur an Moderne und Digitalisierung denken konnte.

Grundlegend für eine Mentalität oder ein gesellschaftliches Denken ist die Art und Weise, wie die Welt an sich wahrgenommen und erklärt wird.

Seitdem es uns Menschen gibt, versuchen wir, die Welt zu erklären, in der wir leben. Das brauchen wir, um uns selbst in der Welt einordnen zu können. Und wie das in der jeweiligen Zeit oder der jeweiligen Gesellschaft funktioniert, ist sehr erhellend. Wie haben die Menschen damals im Mittelalter versucht, die Welt zu verstehen?

Die Menschen damals haben die Welt indirekt erklärt, über einen allgemeinen Bezugspunkt, von dem aus alles andere erklärbar wird. Dieser Bezugspunkt hieß Gott. Die Welt ist Schöpfung Gottes. Wenn Gott die Welt erschaffen hat, dann ist logischerweise der Plan der Welt in Gott enthalten. Wenn ich also etwas über die Welt erfahren will, so der Mensch im Mittelalter, kann ich das in Gott am allerbesten.

So wurde das Mittelalter zu der Zeit, in der die Theologie die Krone und die Vollendung aller Wissenschaft war – heute unvorstellbar. Diese Stellung der Theologie war logisch, weil Gott das definitive Erklärungsprinzip war: die Welt wurde über Gott erklärt. Das begann am Ende des Mittelalters, spätestens ab dem 14. Jahrhundert, massiv zu bröckeln. Und mit diesem Bröckeln beginnt die Moderne.

Die Entstehung der digitalen Mentalität

Was passiert, wenn nach und nach das Erklärungsprinzip „Gott“ verschwindet, von dem aus alles erklärt wurde? Es war damals nicht so, dass von jetzt auf gleich keiner mehr an Gott glaubte. Aber der selbstverständliche Glaube, dass man in Gott etwas über das Funktionieren der Welt erfahren konnte – der schwand zusehends.

Die Welt wird nicht mehr indirekt erklärt – über Gott – , sondern direkt. Aus den Sachen selbst. Die Welt selbst wird interessant. Und Wissenschaft heißt von da an nicht mehr: Erforschung Gottes, sondern Erforschung der Welt.

Das klingt für uns heute völlig selbstverständlich, aber das ist es eben nicht. Und das ist es in vielen Ländern und Kulturen bis heute nicht. Dass wir Menschen das Wesentliche über die Welt nicht in Gott oder in der Religion, sondern in der Welt selbst erfahren: das musste erst errungen werden. Und mit diesem Ringen beginnt die Moderne.

Die Wissenschaften beginnen zu boomen, gerade die Naturwissenschaften. Galilei, Newton, Kopernikus. Auf einmal wird die ganze Welt erfasst: alles wird vermessen, verglichen und aufgezeichnet.

Mit anderen Worten: Daten werden gesammelt.

Auch begünstigt durch den Buchdruck entsteht eine Sucht danach, Informationen, Daten über die Welt zu sammeln und mit diesen Daten die Welt zu erklären. An diesen Daten hatte man vorher kein Interesse. Im Mittelalter stieg keiner auf einen Berg, um zu wissen, wie hoch der ist. Warum auch? Auf einmal wird es gemacht. Vorher hatte keiner die Idee, in ferne Länder zu reisen und Blumen oder Käfer zu sammeln. Auf einmal wird es gemacht. Vorher hatte keiner die Idee, genaue Volkszählungen vorzunehmen und wirklich jeden Bürger zu erfassen. Nun wird es gemacht. Auf einmal entstehen staatliche Bürokratien.

Das alles ist neu. Und es entspringt einer Mentalität, mit der die Moderne entstanden ist: das Verständnis der Welt läuft über Informationen. Über Daten. Ich sammle Daten in der Welt, um die Welt verstehen zu können. Dieser Prozess wird immer schneller. Der wissenschaftliche Fortschritt wird zu einem technischen Fortschritt, der dann wieder den wissenschaftlichen Fortschritt ankurbelt. Dieser Prozess wird immer schneller und wird schließlich zur heutigen Digitalisierung.

Die Welt in Daten

Die Digitalisierung, wie wir sie heute kennen, ist nicht mehr und nicht weniger als die Weiterführung dieser langen historischen Entwicklung. Dieser historische Hintergrund macht etwas sehr Wichtiges deutlich, das wir brauchen, um die Digitalisierung beurteilen zu können:

Digitalisierung ist nicht etwas Zufälliges, das man einfach wieder abschaffen könnte, sondern die Digitalisierung ist eine logische Konsequenz unserer jahrhundertelang gewachsenen Mentalität.

Welterkenntnis durch Datensammeln.

Diese Mentalität war nie unumstritten. Bis heute nicht. Die Kritik an dieser digitalen Mentalität zielt zumeist darauf, dass viele Aspekte des Menschseins und damit das Menschsein selbst nicht in Daten ausdrückbar sind.

Wie gerecht kann eine auf Daten basierende Welterklärung einem nicht nur nach Daten und nach einer formalen Logik funktionierenden Menschen werden?

Was ist der Mensch angesichts der umfassenden Datafizierung? Wo sind die Daten für ihn eine Hilfe oder sogar notwendig für seinen Lebensentwurf und wo ist die Grenze, wo der Mensch etwas ist, das nicht in den Daten fassbar ist?

An der Beantwortung dieser Fragen entscheidet sich, wie sich unsere Gesellschaften und unsere individuellen Leben entwickeln werden. Die lange Mentalitäts- und Denkgeschichte, die in vielen Jahrhunderten zur Digitalisierung führte, macht deutlich, dass die Digitalisierung Teil unseres Lebens ist – ob wir wollen oder nicht. Welche Rolle sie für unser Leben spielt und wer eigentlich die Rollen für unser Leben festlegt: daran müssen wir alle zukünftig arbeiten.

 

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